Reise in die Vergangenheit
Wir sind nun 200 Kilometer Luftlinie von Denver entfernt und als wir Crested Butte hinter uns lassen, verwandelt sich vor unseren Augen die Landschaft. Das felsige Gebirge mit leuchtenden Aspen und grünen Nadelbäumen wird zu einer Schluchtenlandschaft aus roten Sandsteinfelsen, die man wahrscheinlich eher mit Utah assoziiert. Unsere Fahrt bringt uns nach Gunnison zum Blue Mesa Reservoir. Zwischen den roten Felsen liegt der größte Stausee Colorados. Kurz nachdem wir ihn passiert haben, gräbt sich der Gunnison River in eine tiefe Schlucht: den Black Canyon of the Gunnison. Er ist einer der vier Nationalparks des Staates und gilt als Geheimtipp. Früher, bevor der Fluss gestaut wurde, strömte er mit bis zu 2,75 Millionen PS durch den Canyon und konnte sich daher tief in das zwei Milliarden Jahre alte Gestein graben. Dabei kommt er im Bereich des Canyons auf ein durchschnittliches Gefälle von 18 Metern pro Kilometern. Keine andere Schlucht in Nordamerika ist gleichzeitig so eng, tief und steil. 80 Kilometer ist die Schlucht lang, an manchen Stellen nur 335 Meter breit und dabei aber bis zu 823 Meter tief. Als wir in die Schlucht blicken, erscheint uns der Name Black Canyon auf jeden Fall sehr passend. In diese Tiefe können kaum Sonnenstrahlen vordringen. Wir legen noch einen Zwischenstopp an der Painted Wall ein – die mit 690 Metern höchste vertikale Felswand in Colorado. Sie ist fast zweimal so hoch wie das Empire State Building und mit weißen Streifen durchzogen. Sie wirken ein bisschen, als ob sie per Hand aufgemalt worden wären, was der Wand den Namen eingebracht hat.
Als wir den Black Canyon of the Gunnison wieder verlassen, können wir unser Ziel schon in der Ferne erahnen: Die Berge bei Telluride. So gelangen wir zurück in alpines Gelände und die leuchtenden Aspen ziehen wieder vor unserem Autofenster vorbei. Ähnlich wie in Crested Butte liegt die historische Stadt im Tal, während am Berg in den 70er Jahren im Zuge der Eröffnung des Skigebiets das Mountain Village erbaut wurde. Hier tauchen wir ein in die Geschichte Colorados, das ab Mitte des 19. Jahrhunderts viele mit dem Verheiß auf Gold und Silber anzog. Roma, der seit 40 Jahren in Telluride lebt, nimmt uns am nächsten Tag mit auf diese Reise in die Vergangenheit.
Mit dem Jeep geht es auf der schmalen und natürlich nicht geteerten Tomboy Road zu den alten Minen von Telluride. Unvorstellbar, dass die Straße, wo unser Jeep gerade so Platz hat, früher zweispurig genutzt wurde! Gut, dass Roma das Fahren von Whispering Jim gelernt hat, einem stadtbekannten Minenarbeiter, dessen Spitzname ironisch verstanden werden sollte – schließlich arbeitete er tagtäglich mit Dynamit. Acht Kilometer windet sich die Passstraße, die 1901 eröffnet wurde, immer höher den Berg hinauf. Am Wegesrand sehen wir Mineneingänge und Gleise, die in die Felsen führen. Sie entstanden ab Mitte der 1870er Jahre als nach Goldfunden Telluride gegründet wurde. Zunächst gelangen wir auf der Tomboy Road zur Smuggler-Union Mine. Hier lebten mehrere Hundert Arbeiter in einem mehrstöckigen Gebäude. Übrig geblieben ist davon nichts mehr. Lediglich der alte Lastenzug ist noch vorhanden. Wir folgen weiter der Straße zur Tomboy Mine. Auf halbem Weg sehen wir neben der Straße einige Holzhütten, das ehemalige Rotlichtmilieu – wie uns Roma aufklärt –, und erreichen schließlich Tomboy.
Wo früher 1.200 Menschen lebten, erwartet uns nur noch eine Geisterstadt, die dem Verfall übergeben ist. Bei einigen Gebäuden stehen noch die Grundmauern, auf Holzbalken liegen Spaten, Schuhe oder Gläser – Gegenstände, die die ehemaligen Bewohner zurückgelassen haben. Als uns Roma erzählt, dass es hier früher sogar einen Tennisplatz und eine Bowlingbahn gab, ist das nur schwer vorstellbar. Tomboy war sogar die erste Minenstadt mit Strom. Ehe wir hier oben auf 3.500 Metern die Idylle und den grandiosen Ausblick ins Tal zu sehr genießen, erinnert uns Roma: „Früher war es hier nicht so still, da liefen 24 Stunden lang die Maschinen.“ Nicht zu vergessen, dass die Arbeiter, die in ihrer Unterkunft über den Goldbarren schliefen, nur zwei Dollar am Tag erhielten und mitten in der Stadt im Powder House das Dynamit lagerte. Bei Tomboy müssen wir umdrehen, obwohl die Straße noch weiter hinauf führen würde. Es liegt zu viel Schnee. Glück hatten wir eh: Die Wochen davor konnte Roma nicht so weit fahren, jetzt ist der Schnee hier fast abgetaut.
Weitere Teile unsere Trips durch Colorado:
Teil 1 - Boulder: Zwischen Hochgebirge und Steppenlandschaft
Teil 2 - Aspen: Umgeben von Viertausendern
Teil 3 - Crested Butte: Kulinarisches Colorado
Teil 4 - Telluride: Reise in die Vergangenheit
Teil 5 - Gateway: Der rote Sandstein
Teil 6 - Grand Junction: Eine Badewanne in der Wildnis
Teil 7 - Denver: Ein blauer Bär und ein Glas Zimtbier zum Abschied